In dieser Broschüre ist oft die Rede vom „Grenzregime“. Auch wenn vieles vielleicht naheliegend ist, sollen die folgenden Zeilen formulieren, was in etwa in diesem Kontext unter dem Begriff zu verstehen ist.
Im üblichen Sprachgebrauch beschreibt der Begriff Grenzregime alle Maßnahmen und Institutionen (rechtlich, politisch, ökonomisch usw.) die zur Grenzsicherung und -kontrolle verwendet werden. Der Begriff wird auch wertneutral im bürokratischen Herrschafts-Sprech der Politik verwendet.
Im Folgenden wird er aber kritisch und breiter gefasst, um zu versuchen der rassistischen und tödlichen Realität von Grenzpolitik einen Namen zu geben. Im Kontext des Prozesses in Wiener Neustadt geht es in erster Linie um das europäische Grenzregime, das trotz allem als gemeinsamer Raum gesehen werden kann. Dabei geht es nicht nur um die militärische Grenzabschottung der „Festung Europa“, sondern um vielfältige Formen von Herrschaftsverhältnissen und die Produktion von rassistischer Differenz und Ausbeutung. Räumlich kommt es sowohl zu einer Auslagerung der Grenzkontrollen über die EU-Staaten hinaus, als auch zu einer umfassenden Verinnerlichung der Grenzziehungen in verschiedenen alltäglichen und institutionellen Bereichen wie Justizsystem, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem, Arbeitsmarkt, „humanitären“ Verwaltungsapparaten usw. sowie im Bewusstsein der Menschen. Das europäische Grenzregime ist eine Verknüpfung von vielen lokalen Grenzregimen.
Es ist mittlerweile auch im Mainstream angekommen, dass die Militarisierung der Außengrenzen „Europas“ ständig Tote fordert, sowohl durch die Illegalisierung jeglicher ungefährlichen Reise, als auch durch direkte Waffengewalt. Doch das Grenzregime ist kein rein staatliches Konstrukt. Menschen reproduzieren diese Grenzen und Ausgrenzungen ständig. Viele schauen nicht nur weg, sondern befürworten das System aktiv, fordern sogar Verschärfungen oder sehen es als notwendig bzw. alternativlos an.
Was für Waren und Kapital erlaubt ist, soll den meisten Menschen verwehrt bleiben: Bewegungsfreiheit. Doch das Grenzregime bleibt widersprüchlich und trotz aller Brutalität auch brüchig. Das Kapital drängt einerseits auf die Mobilität der Arbeitskräfte, andererseits müssen die kapitalistischen Staaten die Kontrolle über ihren Einflussbereich Aufrechterhalten. Vielen gelingt es trotz der massiven und tödlichen Abschottung nach Europa zu kommen. „Die Wirtschaft“ drängt in manchen Bereichen auf Öffnung, in anderen auf Abwehr. Es geht nicht hauptsächlich um komplette Grenzabschottung, auch wenn es oft danach aussieht, sondern um eine Steuerung und Kontrolle von Migration anhand kapitalistischer Verwertbarkeitskriterien. Das Grenz- bzw. Migrationsregime ist auch ein Arbeitsregime bei dem Menschen für die Kapitalverwertung produktiv gemacht werden sollen. Die Entrechtung und Prekarisierung migrantisierter Menschen auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt, führt dazu, dass sie besonders intensiv ausgebeutet werden können.
Der sogenannte „Schlepperei-Paragraph“ (§114 Fremdenpolizeigesetz) ist als Teil des europäischen Grenzregimes zu sehen und kann aufgrund seiner vagen Formulierung dazu benutzt werden, jede Form der Unterstützung bei einem irregulären Grenzübertritt zu kriminalisieren. Ein System, in dem manche Menschen sich gar nicht „legal“ bewegen können, produziert erst Konstrukte wie ‚Schlepperei‘, ‚Aufenthaltsehe‘, ‚Illegale Einreise oder illegalen Aufenthalt‘. Ein irregulärer Grenzübertritt ist unter gegebenen Bedingungen ohne Unterstützung kaum möglich. „Schlepperei“ wird so zu einer notwendigen Dienstleistung.
Denn eins ist sicher: So lange es Menschen gibt, die – aus welchen Gründen auch immer – gezwungen oder gewillt sind, Grenzen zu überwinden, diese Grenzen aber für sie geschlossen werden, so lange brauchen diese Menschen Unterstützung beim Grenzübertritt, solange wird es auch einen Markt für kommerzielle Formen dieser Unterstützung geben.
Der Paragraph ist nicht so formuliert, dass er unmenschliches Verhalten juristisch verfolgen will. Sondern er kriminalisiert Unterstützung beim irregulären Grenzübertritt an sich. Die Bedingungen unter denen dieser stattfindet, spielen im Paragraphen nur eine sekundäre Rolle. In erster Linie sollen also durch § 114 die Grenzen weiter dicht gemacht, und die Solidarität zwischen Menschen gebrochen werden um das Grenzregime weiter auszuweiten und in seiner repressiven Funktion effektiver zu machen.