Bisher sind viele Aspekte in Bezug auf den Prozess in Wiener Neustadt gegen die wegen „Schlepperei“ Angeklagten thematisiert worden: So zum Beispiel der in Behörden und Gesellschaft verankerte Rassismus, dass Grenzübertritte für manche Personen möglich sind und für andere nicht, die Übersetzungen, die nicht nur falsch sondern belastend waren und die politische Motivation kurz vor den Nationalratswahlen, die Lügen der Innenministerin über Millionengewinne und grausame Schlepperbosse.
Was bisher jedoch kaum thematisiert wurde, ist die Erschaffung, Aufrechterhaltung und schließlich Kriminalisierung von prekären Lebenssituationen. Während und vor dem Prozess zeigte sich das auf verschieden Weise. So wurde die monatelange Untersuchungshaft mit „Tatwiederbegehungsgefahr“ argumentiert und die Anklageschrift beinhaltet nicht nur die Verschärfung der Strafhöhe wegen „Begehung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung“ sondern auch wegen „Gewerbsmäßigkeit“. Argumentiert werden diese Punkte vor allem mit den angenommen mangelnden materiellen Ressourcen der Angeklagten. So wurde ein Einspruch gegen die Anklageschrift in Bezug auf die vorgeworfene „Gewerbsmäßigkeit“ vom Oberlandesgericht mit der Begründung abgelehnt, dass die Beschuldigten zu wenig Einkommen hätten, um nicht von einer „Gewerbsmäßigkeit“ ausgehen zu müssen. In der Ablehnung des Einspruches heißt es: „Gerade die gewerbsmäßige Tatbegehung aller Beteiligten, ist aus der […] Tatbegehung als Mitglied einer […] Kriminellen Vereinigung im Zusammenhang mit dem minimalen Einkommen der ansonsten vermögenslosen Angeklagten, und zwar € 39,– monatlich, bzw. € 45,– monatlich als Asylwerber abzuleiten.“
Auf dieselbe Weise zeigt sich die Kriminalisierung von prekären Lebensumständen bereits im so genannten „Grunddelikt“. Die Hilfeleistung bei einem irregulären Grenzübertritt ist nur mit strafrechtlichen Konsequenzen bedroht, wenn ein „Bereicherungsvorsatz“ besteht. Theoretisch könnte man einen Bereicherungsvorsatz, nur mit konkreten Aussagen von Beschuldigten argumentieren, da sich ein Vorsatz in der Theorie auf das Bewusstsein der beschuldigten Person, und nicht auf äußere Tatsachen bezieht. Für die Behörden reicht jedoch ein geringes Einkommen als Begründung für eben diesen inneren Tatbestand. Es wird also argumentiert, dass eine Person wenig Geld hat, deswegen kann sie etwas bestimmtes nur gemacht haben, um an Geld zu kommen.
Auch in diesem Prozess bezweifelt die Richterin immer wieder die Motivation der Angeklagten, wenn sie angeben, dass sie aus anderen als finanziellen Gründen jemandem behilflich waren und stellt dies in den Kontext ihrer materiellen Lage.
Einerseits beschränken Gesetze die Möglichkeiten für Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus, Geld zu verdienen, zum Beispiel durch den stark beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, andererseits kriminialisieren andere Gesetze Handlungen, die aufgrund von einer schlechten finanziellen Lage gesetzt werden und schließlich wird Personen aufgrund ihrer prekären Lage pauschal abgesprochen, aus Solidarität handeln zu können.