Heute wurde Gruppeninspektor Martin Unger einvernommen. Er hatte eine der wichtigsten Rollen bei der Konstruktion der Anklagschrift inne. Er schrieb für die Soko-Schlepperei einen der Abschlussberichte in Bezug auf fünf der acht Angeklagten, auf diesen stützt sich die gesamte Argumentation der Staatsanwaltschaft. Den zweiten wichtigen Abschlussbericht verfasste Bezirksinspektor Rudolf Kranz, der der nächste geladene Zeuge ist. Im Laufe der Vernehmung stellte sich heraus, dass die beiden erst getrennt ermittelten – Martin Unger für die Staatsanwaltschaft Wien und Rudolf Kranz für die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt – und die Akten später zusammengelegt wurden (das ist nur eine Erklärung für den extrem chaotischen Zustand der Akten). Fünf Stunden lang befragte nur die Richterin den Zeugen, morgen geht es mit den Fragen der Staatsanwältin und der Anwält*innen weiter.
Martin Unger arbeitet seit vielen Jahre im „fremdenpolizeilichen Bereich“ und ist seit 2001 in der Soko-Schlepperei Süd tätig. Den Verhandlungssaal betrat er mit einer Aktentasche voller penibel sortierter Akten und einem Flipchartposter, mit dem er morgen zeigen will, warum es sich entgegen der mittlerweile eher zweifelnden Richterin im aktuellen Fall um eine “Kriminelle Vereinigung” handeln soll.
Ungers langjährige Berufserfahrung war den ganzen Tag über Thema, oftmals schien es als wäre sein Erfahrungsschatz die wichtigste Grundlage der Ermittlungen. So erklärte er unter anderem, dass mit „Onkel“ nicht nur ein Verwandter gemeint sein könnte, sondern auch – wie seiner Meinung nach im konkreten Fall – eine Person die Schlepperei finanziert. Fragen über Inhalte des Abschlussberichtes beantwortete er oft damit, dass er aus Befragungen im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit wisse, wie Schleppungen „üblicherweise“ ablaufen. Unger zufolge begannen die Ermittlungen zunächst unter der Leitung seines Kollegen Kranz im März 2013 mit der Einvernahme einer Person in
Traiskirchen, die einen der Angeklagten beschuldigte woraufhin begonnen wurde dessen Handy zu überwachen und die restlichen Angeklagten ins Blickfeld der Behörden gerieten. Diese Ermittlungen unterlagen der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, womit erklärt wird warum der Prozess jetzt in Wiener Neustadt stattfindet.
Die Richterin hat sich wohl erhofft ein bisschen Klarheit in den überdimensionalen, chaotischen Aktenberg zu bekommen. In diesem befindet sich übrigens ein Facebook-Foto von einer Person gegen die einmal wegen Schlepperei ermittelt wurde. Das Foto zeigt die Person mit jeder Menge 100 € Scheinen. Auf die Frage der Richterin, warum dieses Bild in diesem Akt zu finden sei und ob Unger wisse was das für einen Eindruck mache, antwortet er: „Der Name kommt im Akt vor, der Vollständigkeit halber habe ich es drinnen gelassen, ich kann ja nicht einfach etwas herausgeben“. Dafür fehlen im Akt fast alle Observationsberichte, die laut Unger stattdessen in den Bericht „eingearbeitet“ wurden. So ist nicht mehr ersichtlich, was die Beamt*innen tatsächlich wahrgenommen haben.
Ersichtlich wurde, dass sich der gesamte Abschlussbericht größtenteils auf die Telefonüberwachungen (die bereits wegen schlechter Übersetzung in Kritik geraten sind) stützt. Zu den auch bereits viel kritisierten „Faktenüberschneidungen“ – d.h. eine Handlung wurde in zwei oder drei Anklagepunkte verpackt – gab er an, diese ergeben sich aus der „chronologischen Abfolge“ der Telefonate und seien keine Überschneidungen. In konkreten Fällen konnte er das jedoch nicht beweisen.
Die Richterin stellte viele Fragen in Bezug auf die Konstruktion der angeblichen “Kriminellen Vereinigung”, den erwirtschafteten Vermögensvorteil und ob „Schleppungen“ tatsächlich stattgefunden hätten. Insgesamt waren Ungers Antworten nicht sehr ‘zufriedenstellend’, er wirkte zunehmend verunsichert und das Fundament auf dem die Anklage beruht ist wieder einmal ein Stück mehr ins Wanken geraten.